Der Koffer mit dem Gedicht von Jehuda Amichai

Jehuda Amichai wurde 1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren. Mit zwölf Jahren nach Palästina emigriert, entwickelte er sich zu einem der bedeutendsten Lyriker Israels. Er gilt als Erfinder der modernen hebräischen Lyrik. Der Krieg und die Liebe stehen im Zentrum seines Werkes. Doch auch mit der Shoa und seiner fränkischen Heimat hat er sich auseinandergesetzt – besonders in seinem Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ (hebr. 1963, dt. 1992).

Seine Kindheitsfreundin Ruth Hanover diente ihm als konkretes Beispiel, als sein persönliches Holocaust-Opfer. Sie kommt in seinen Werken immer wieder vor – ganz besonders prominent in dem Gedicht „Kleine Ruth“. Im Jahr 2000 starb Jehuda Amichai in Jerusalem.

Ein kurzer Ausschnitt des Gedichts „Kleine Ruth“ ist am DenkOrt in einem offenen Koffer zu lesen.

Kleine Ruth

von Jehuda Amichai (Auszug)

Manchmal überfällt mich die Erinnerung an dich, kleine Ruth.
Wir trennten uns in der fernen Kindheit, sie verbrannten dich in einem der Lager.
[…]
Manchmal erinnere ich mich an dich in unerwarteten Augenblicken
und an Plätzen, die nicht fürs Gedenken geplant sind, sondern fürs flüchtige Verweilen,
wie Flughäfen, wo die Gelandeten müde an den Gepäckterminals stehen
und, sobald sie ihren Koffer erspähen, freudig jubilieren
wie bei der Auferstehung der Toten, und dann hinausgehen in ihr Leben.

Doch ein Koffer kommt immer wieder zurück, verschwindet, kommt wieder,
zieht langsam, ganz langsam vorbei in der menschenleeren Halle.
So zieht deine stumme Gestalt an mir vorbei, so erinnere ich mich an dich,
bis das Gepäckband stillsteht. Und sie bewegten sich nicht. Selah.

(Aus: Auch die Faust war einmal eine offene Hand und Finger)

Ruth Hanover (1923 – 1943)

Ruth Fanny Hannover wurde 1923 als Tochter des Würzburger Rabbiners Siegmund Hanover geboren. Ihre Mutter Klara starb früh und der Vater heiratete erneut. Da eine ältere Stiefschwester ebenfalls Ruth hieß, nannte die Familie die jüngere Ruth nun die „kleine Ruth“. Schon seit dem Kindergarten war sie mit Ludwig Pfeuffer befreundet.

Im Alter von elf Jahren verlor Ruth bei einem Unfall ein Bein. Kurz nach der Emigration ihrer Schwestern nach Palästina konnte sie im Januar 1939 mit einem Kindertransport in die Niederlande ausreisen. Sie lebte bei Pflegefamilien in Amsterdam. Nach dem Besuch des Jüdischen Gymnasiums begann sie eine Ausbildung zur Zahntechnikerin. Die von ihr erhaltenen Briefe an die Familie zeigen eine kluge und selbstbewusste junge Frau.

Aufgrund ihrer Behinderung bekam Ruth Hanover kein Visum für Palästina oder die USA, wo ihre Familie lebte. Auch Friedrich Pfeuffer in Jerusalem, der Vater von Ludwig Jehuda, setzte sich vergeblich für sie ein. Im Mai 1943 wurde Ruth über das Sammellager Westerbork (NL) nach Sobibor im besetzten Ostpolen deportiert und dort ermordet. Sie wurde 19 Jahre alt.

Jehuda Amichai (1924 – 2000)

Ludwig Pfeuffer, der spätere Jehuda Amichai, wuchs in Würzburg in einer religiös-orthodoxen Familie auf. Bereits in der jüdischen Schule lernte er Hebräisch. Sein Vater und weitere Verwandte schätzten die Gefahr richtig ein, die von den Nationalsozialisten ausging. 1936 emigrierte die Familie nach Palästina, niemand wurde ermordet. Vermutlich kurz vor der Abreise entstand das Foto der zwölfjährigen Kinder Ludwig und Ruth.

In einem weiteren Gedicht nimmt Amichai auf dieses Foto Bezug:

All dies erzeugt einen tanzenden Rhythmus 

von Jehuda Amichai (Auszug)

Vor einer ganzen Weile fand ich ein altes Foto,
darauf ein kleines Mädchen, das schon lange tot ist, und ich.
Wir saßen nebeneinander in kindlicher Umarmung vor einer Mauer,
an der ein Birnbaum hochwuchs: Sie hatte eine Hand
auf meine Schulter gelegt und die andere streckte sie mir
von den Toten entgegen, jetzt.

(Aus: Große Ruhe – Fragen und Antworten, S. 31)

© Rotraud Ries, 2020; Übersetzung der Gedichte aus dem Hebräischen: Amadé Esperer

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