Die Jahrzehnte vor 1933 tragen für die Juden in Unterfranken ein doppeltes Gesicht. Endlich befreit von den gesetzlichen Beschränkungen der vergangenen Jahrhunderte, können sie sich frei bewegen und wirtschaftlich voll entfalten. Zahlreiche Geschäfte und Unternehmen werden gegründet. Die große Mehrheit der Juden bleibt im Handel tätig, wozu auch der immer noch starke jüdische Viehhandel auf dem Lande zählt. Gesellschaftlich gehören sie endlich dazu und bringen dies auch durch ihre aktive Teilnahme am 1. Weltkrieg zum Ausdruck. Zugleich machen ihnen jedoch rechts-nationalistische Kräfte diesen Aufstieg zum Vorwurf.
Seit 1861 wachsen die größeren städtischen jüdischen Gemeinden erheblich. Doch trotz der Zuwanderung aus Osteuropa nimmt die Zahl der Juden in Unterfranken zwischen 1900 und 1933 um gut ein Drittel ab – stärker als im übrigen Bayern. Die wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten reichen vielen hier Geborenen nicht mehr aus. Inflation und Weltwirtschaftskrise treffen auch die jüdischen Unternehmen hart.
Mit 8.520 Personen in 115 Gemeinden im Jahr 1933 weist Unterfranken gleichwohl eine hohe Dichte jüdischer Bevölkerung auf. Die großen Gemeinden verfügen über eine breite Infrastruktur. Trotz aller Teilnahme am Leben in Stadt und Dorf, in Vereinen, Gesellschaften und im Kulturleben bleiben viele Familien im privaten Umgang lieber unter sich.
Die Mehrheit der Juden auf dem Lande ist religiös eher konservativ. Vor allem sie nutzen das gut ausgebaute orthodoxe Bildungswesen. In den größeren Städten gibt es jedoch auch liberal orientierte Teile der Gemeinden und vereinzelt Familien, die nicht mehr zur Gemeinde gehören. Rabbiner und Gemeindeleitungen verstehen es jedoch, diese Gegensätze zu überbrücken.