Stele 2 – Das Gepäck der Deportierten

Das Gepäck spielt am DenkOrt Deportationen eine zentrale Rolle. Denn mit Gepäckstücken erinnert die Gedenkstätte vor dem Würzburger Hauptbahnhof an die zerstörten jüdischen Gemeinden in Unterfranken. Und an ihre Menschen, die meist über Würzburg in den Tod transportiert wurden. Jedes Gepäckstück kommt aus einer der Kommunen, in denen 1933 die jüdischen Menschen der Region lebten und in denen sie in ihren Kultusgemeinden einen sozialen und religiösen Mittelpunkt hatten.

Ausgangspunkt der Gestaltung des DenkOrts sind Fotos wie dieses, auf denen das Gepäck der Deportierten zu sehen ist. Das reale Gepäck darauf steht allerdings nicht für eine Gemeinde, sondern ist natürlich individuell oder gehört einer Familie. Es war alles, was die Menschen, die sich zur Deportation sammeln mussten, noch hatten. Denn sie mussten ihre Wohnungen wie bei einem Umzug verlassen, durften jedoch kaum etwas mitnehmen. Und das, woraus ihr Gepäck bestehen sollte, wurde ihnen genau vorgeschrieben – und dann an der Sammelstelle auf entwürdigende Art und Weise kontrolliert. Vieles wurde den Menschen abgenommen.

Käthe Frieß, eine der wenigen Überlebenden, beschrieb das 1945 so: „Jeder von uns trug seinen Rucksack und einen Koffer. Darin war unser Hab und Gut. Und wie reich waren wir damals damit noch! … Wir sind also in der Stadthalle gelandet und müssen warten, bis wir mit einem Schub in einen großen Saal zur Kontrolle drankommen. Unsere erste Kontrolle war das. Und wie unzählige sind gefolgt! Jedes Mal hat man uns etwas abgenommen. Es ist so zum Lachen! Warum hat man uns nicht gleich ganz ausgezogen, dann wäre den Herren viel Mühe erspart geblieben!“

Die Vorschriften und akribischen Kontrollen dienten im Wesentlichen drei Zielen: Ganz praktisch dazu, Kleidung, Schuhe und Decken sowie Dinge und Lebensmittel mitzunehmen, die unterwegs und an den Zielorten der Transporte gebraucht wurden. Dazu gehörten auch Lebensmittel, Medikamente und Ausrüstungsgegenstände, die die Jüdische Gemeinde Würzburg beschaffen und mitgeben musste. Ein weiteres Ziel war, die Menschen daran zu hindern, Wertgegenstände und potentielle Waffen mitzunehmen. Die komplette Beraubung, Demütigung und Entindividualisierung der jüdischen Bevölkerung gehörte mit zum perfiden Programm des NS-Staates. Und schließlich sollte den Kontrollierten mit einem bürokratischen Verfahren, in dem z.B. jeder abgenommene Gegenstand protokolliert wurde, vorgetäuscht werden, dass alles mit rechten Dingen zuging.

Das Gepäck bestand aus dem Handgepäck, das jeder mit sich trug und das man auf den Gestapo-Fotos erkennen kann. Aus alten Stoffen hatten Helferinnen und Helfer in den jüdischen Gemeinden Umhängetaschen für diesen Zweck genäht. Das Großgepäck, Koffer und Rucksäcke sowie Deckenrollen, musste an den Bahnhöfen oder an den Sammelstellen abgeliefert werden. Familien beförderten es, wenn sie konnten, auf Handwagen. Nach den Kontrollen wurde es auf offene Anhänger (Kitzingen) oder in Lastwagen (Würzburg) geladen und zum Bahnhof gefahren. Alte Männer und männliche Jugendliche aus den lokalen Gemeinden mussten dabei helfen. Am Deportationsbahnhof wurde das Gepäck ausgeladen und auf dem Bahnsteig zwischengelagert. Die Deportationszüge führten eigene Wagen für den Transport des Großgepäcks.

Ob die Besitzer:innen am Zielort das Gepäck zurückerhielten, war jedoch reine Glückssache. Und selbst wenn: Lebensmittelvorräte, Kleidung und Schuhe waren unter Lagerbedingungen schnell aufgebraucht oder verschlissen – und reichten bei den arktischen Temperaturen im Baltischen Winter nach dem ersten Transport ohnehin nicht aus. Und dann kamen Hunger und prekärste Lebensbedingungen, an denen bereits viele Menschen starben. Die wenigen Postkarten, die 1942 zum Beispiel von Deportierten aus dem Raum Lublin im besetzten Polen ankamen, sprechen eine klare Sprache: Schickt uns dringend und regelmäßig Essen!

Der Umfang des erlaubten Gepäcks nahm bei den letzten Deportationen ab: Wofür Gepäckstücke abfertigen und transportieren, wenn deren Besitzer:innen zur baldigen Ermordung vorgesehen waren – dürfte die mörderische Logik der NS-Verfolger gewesen sein. Und es blieb ganz nebenbei auch mehr übrig, um es vor Ort zu konfiszieren.

© Rotraud Ries, 2022

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