Stele 3 – Familien

Mit den ersten drei Transporten zwischen November 1941 und April 1942 deportierte der NS-Staat den „arbeitsfähigen“ Teil der jüdischen Bevölkerung Unterfrankens in die von Deutschland besetzten Länder Osteuropas. Auch Familienangehörige und Kinder gehörten dazu.

Zur zweiten Deportation am 24. März mussten sich 208 Menschen überwiegend aus dem Raum Ochsenfurt und Kitzingen in Kitzingen sammeln. Im Fränkischen Hof wurden sie abgefertigt und entwürdigend kontrolliert. Schaulustige standen draußen und beobachteten das Geschehen.

Am hellen Tag mussten die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Süden Unterfrankens dann von der Sammelstelle durch die Stadt zum Bahnhof Kitzingen laufen. Ihr Weg ist durch viele Fotos des Polizeifotografen dokumentiert, einzelne Menschen lassen sich auf den Fotos identifizieren. Zu ihnen gehört auch der sechzehnjährige Horst Bauer aus Kitzingen, der aufgrund seiner Körpergröße gleich auf vier Fotos zu erkennen ist.

Horst Bauer wurde mit seiner Familie deportiert: seinem Vater Hermann, der Mutter Dora, der Schwester Rosel Gertraud und seinem kleinen Bruder Walter, der noch keine vier Jahre alt war. Horsts Vater war als junger Mann aus Hessen nach Kitzingen gezogen, wo seine Schwester Minna Schönfärber mit einem Weinhändler verheiratet war. Er stieg ebenfalls ins Weinhandelsgeschäft ein. Unter der Woche suchte er seine Kunden auf, während Horsts Mutter Dora mit einer Mitarbeiterin das Geschäft vor Ort führte.

Die Eltern hatten um 1920 geheiratet. Die ältere Schwester Rosel Gertraud wurde 1923 geboren, 1925 kam er selbst und 1938 als Nachkömmling sein Bruder Walter zur Welt. Wenig später wurde sein Vater Hermann im Zuge der Novemberpogrome verhaftet und für einen Monat im KZ Dachau interniert. Wie andere Geschäftsbesitzer wurde er wohl unter Druck gesetzt, seine Firma zu verkaufen oder aufzulösen.

Horst und seine Schwester besuchten die jüdische Schule, da andere Bildungsmöglichkeiten nicht mehr zur Verfügung standen. Daneben engagierte sich Horst im jüdischen Jugendverband Esra. Vergeblich versuchte ein Vorstand der Jüdischen Gemeinde, Emanuel Katzmann, für ihn eine Emigrationsmöglichkeit nach Kuba zu finden. Um seine Chancen für eine Emigration zu erhöhen, zog Horst Bauer nach Abschluss der Schule nach Berlin. Er absolvierte dort bis August 1941 eine Ausbildung zum Schlosser – vermutlich in einer Ausbildungsstätte für junge Juden in Niederschönhausen. Seine Schwester arbeitete währenddessen als Näherin.

Diese Informationen sind als Berufsangaben den Deportationslisten für den Transport am 24. März 1942 zu entnehmen. Auch ein – eher schemenhaftes – Bild des kleinen Bruders Walter erhalten wir nur in Zusammenhang mit der Deportation: Auf einem der Fotos, die von der Deportation aufgenommen wurden (Foto 43), ist er am linken unteren Bildrand neben seinem großen Bruder zu erkennen. Die Bauers wurden mit 203 weiteren Personen von Kitzingen nach Izbica im besetzten Polen deportiert. Niemand überlebte den Transport. Auch die Familie Bauer kam in Izbica oder in einem der Arbeits- oder Vernichtungslager im Raum Lublin noch im Jahr 1942 ums Leben.

Da viele Familien mit Kindern versuchten zu emigrieren, war der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter den Deportierten nicht so hoch, wie es ihrem Bevölkerungsanteil entsprochen hätte. Manche Familien, die selbst nicht auswandern konnten, schickten auch ältere Kinder und Jugendliche allein ins Ausland – sei es mit einem Kindertransport nach England oder Belgien, sei es individuell. Wie die Familie Straus aus Steinach an der Saale. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist ein Teil der Familie auf dem rechten unteren Foto der Stele zu sehen.

Doch so einfach wie bei Horst Bauer aus Kitzingen ist die Identifikation nicht. Das Foto wurde zu Beginn der dritten Deportation auf dem Gelände des Platz’schen Gartens aufgenommen. Ein kleines Mädchen schaut den Betrachter intensiv und direkt mit kritischem Blick an, dahinter stehen drei Jungen und eine Frau, deren Gesicht nicht zu sehen ist. Sucht man unter den 852 Menschen dieses Transports nach einem Mädchen im geschätzten Alter mit einem oder mehreren Brüdern, kommen nur zwei Familien in Betracht. Nur von der einen gibt es allerdings auch Fotos, die man für einen Vergleich heranziehen kann. Es ist die Familie Straus.

Bei dem Mädchen handelt es sich wohl um Susanne Straus, bei dem Jungen mit der Mütze um ihren Bruder Herbert. Sie hatten zuletzt in Neustadt an der Saale gewohnt. Zwei weitere Jungen, die ähnlich gekleidet sind und Brüder sein könnten, stehen mit ihnen zusammen. Sie tragen alle die Evakuierungsnummer am Mantel – und die unterschiedliche Befestigung der Schilder könnte ein Indiz dafür sein, dass die vier Kinder aus zwei verschiedenen Haushalten stammten. Eine Frau dreht dem Betrachter den Rücken zu, der Vater Straus und der zweite Bruder, die mit deportiert wurden, sind nicht zu sehen.

Susanne hatte drei Brüder. Der älteste, Manfred, wurde nicht mit deportiert. Denn er war bereits 1938 als 9jähriger Junge mit Nachbarn in die USA emigriert, wo sein Großvater David Frei und eine Tante lebten, die ihn später adoptierte. Von Manfred stammen einige der Fotos – und er hat seinen Bruder Herbert sicher auf dem Deportationsfoto identifiziert. Die abgebildete Frau sei aufgrund der Statur allerdings wohl nicht seine Mutter, das Mädchen jedoch mit einiger Sicherheit Susanne. Sie war noch sehr klein gewesen, als er emigrierte.

Susanne war im März 1937 geboren worden und hatte im Unterschied zu ihren Brüdern keine Chance mehr auf eine unbeschwerte Kindheit. Ihre Eltern Justin Straus und Paula, geb. Frei, waren beide in Steinach an der Saale aufgewachsen und kannten sich bereits seit der Kindheit. Als sie um 1900 geboren wurden, bestand die dortige Jüdische Gemeinde noch aus etwa 100 Personen. Doch immer mehr jüdische Bewohner:innen zogen in den folgenden Jahren fort. Justin führte in Steinach erfolgreich ein Viehhandelsgeschäft. 1927 heirateten die Eltern – und Susannes Mutter betrieb im Wohnhaus der Familie ein Schuhgeschäft. Auch die Großmutter Fanni Straus lebte mit im Haushalt. 1929, 1930 und 1933 wurden Susannes Brüder Manfred, Herbert und Kurt geboren.

Schon als Susanne anderthalb Jahre alt war, führte die Verfolgungssituation der jüdischen Bevölkerung zu dramatischen Veränderungen in der Familie. Ihre Eltern entschieden, ihren Bruder Manfred mit der Nachbarsfamilie Reis in die USA zu schicken. Dort lebte bereits die Schwester von Paula Straus und der 1936 emigrierte mütterliche Großvater. Manfred verließ Steinach im September. Im Oktober zog Susannes Bruder Herbert nach Neustadt an der Saale, um dort zur Schule zu gehen. Nur am Wochenende konnte er noch seine Familie in Steinach besuchen. Ihr Bruder Kurt folgte ihm im Mai 1940.

Traumatisierend – gerade auch für ein kleines Kind – waren dann jedoch die Ereignisse des Novemberpogroms in Steinach. Ein Schlägertrupp verschaffte sich gewaltsam Zutritt zum Haus der Familie und schlug dort alles kurz und klein. Susannes Vater wurde wenig später verhaftet und bis Mitte Januar 1939 im KZ Dachau interniert. Da es ihm im Anschluss nicht gelang zu emigrieren – das war die Voraussetzung für die Freilassung gewesen –, bekam er wiederholt Ärger mit der Polizei. Immer wieder wurde er aufgegriffen oder denunziert und mehrfach verhaftet. Die Familie musste in das Haus einer anderen jüdischen Familie umziehen. So unter Druck gesetzt, entschieden die Eltern Straus im Oktober 1940, Steinach zu verlassen und nach Neustadt zu ziehen. Hier konnten sie wenigstens die beiden Söhne wieder bei sich haben. Auch die Großmutter Fanni Straus ging mit. Susannes Vater hatte bereits zuvor in Neustadt Zwangsarbeit leisten müssen.

Anderthalb Jahre nach dem Umzug erhielt die Familie Straus mit den anderen Neustädter Jüdinnen und Juden die Aufforderung zur Deportation. Am 22. April 1942 wurde Susanne mit ihren Eltern und ihren zwei Brüdern nach Würzburg gebracht. Mit ihrem Gepäck warteten sie auf dem Gelände des Platz’schen Gartens auf die Kontrollen, die Kinder liefen umher und wurden dabei fotografiert. Drei Tage später wurde die Familie vom Güterbahnhof Aumühle in den Raum Lublin in Ostpolen deportiert. Niemand von ihnen überlebte.

Die Großmutter Fanni Straus blieb allein in Neustadt zurück, musste im August nach Würzburg umziehen und wurde von dort im September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Kurz darauf wurde sie in Treblinka ermordet. Manfred Straus/Fred Strauss in den USA blieb als Einziger der sechsköpfigen Familie übrig.

© Rotraud Ries, 2022

Für Fotos danke ich Cornelia Mence, Hammelburg. Sie stellte auch den Kontakt zu Fred Strauss her, für dessen Informationen ich sehr dankbar bin.

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