Stele 4 – Gustav Kleemann und Käte Frieß

„Nachdem wir in einer Halle gewartet haben, bis es nachts drei Uhr wurde, mussten wir antreten, um durch die nächtliche Stadt heimlich zu marschieren. Sicher wäre das für die Würzburger ein zu jämmerlicher Anblick gewesen, deshalb mussten wir wie Verbrecher davonschleichen! Aber diesen Marsch werde ich nie vergessen! Eine Menschenschlange von 200 Personen kroch entsetzlich langsam die Strasse entlang. Stockdunkel war es, zu beiden Seiten marschierte noch und noch SS-Bewachung. Ab und zu blitzte ein Licht auf, um zu kontrollieren, ob auch keiner von uns ausrückt.“

In ihrem autobiographischen Bericht von 1945 hat die junge Käte Frieß beschrieben, was auch auf dem Foto zu sehen ist. Sie war Augenzeugin. Denn mit ihrem Mann Georg und weiteren 200 Menschen wurde sie am 27. November 1941 aus Würzburg nach Riga deportiert – und überlebte.

Im Vordergrund des unscharfen und grell belichteten Fotos ist ein großer, stattlicher Mann in hellem Mantel zu erkennen, er hat eine Aktentasche in der Hand. Da nur wenige andere Männer auf den weiteren Fotos helle Mäntel tragen, kann man vorsichtig vermuten, dass es sich bei dem Mann um Gustav Kleemann handelt. Denn auf einem anderen Foto ist er – im hellen Mantel – bei der Kontrolle seines Gepäcks zu sehen. Er war als Ordner eingeteilt und trug eine entsprechende Armbinde.

Käte Frieß charakterisierte ihn so: „Unser jüdischer Lagerältester war ein Würzburger und hieß K. Ein entzückender, feiner, vornehmer Mensch. Mit grauen Haaren, groß und stattlich, eben ein vollendeter Gentleman. Sämtliche Frauen waren begeistert von ihm.“

Gustav Kleemann war 1881 in Werneck geboren worden. Nach seiner Militärzeit trat der ausgebildete Kaufmann in die Pferde- und Futtermittelhandlung seines Vaters in Würzburg ein, wurde Teilhaber und später mit seinem Bruder Max deren Besitzer. 1912 heiratete er die Prokuristin Erna Rosenthal.

Neben der Familienfirma brachte sich Kleemann an vielen anderen Stellen mit Tatkraft und Organisationsgeschick ein: zunächst im 1. Weltkrieg im städtischen Versorgungswesen, später in verschiedenen berufsständischen Organisationen. Ferner war er an zwei großen landwirtschaftlichen Gütern beteiligt, politisch aktiv und gehörte verschiedenen jüdischen Vereinigungen an.

Nicht überraschend suchten die Nationalsozialisten ab 1933 sofort, diesem selbstbewussten und erfolgreichen Mann ökonomisch zu schaden, ihn mit Anklagen zu überziehen und ihn sowie seine Angehörigen gezielt an der Emigration zu hindern. Nach seiner Verhaftung im Novemberpogrom 1938 und der erzwungenen Auflösung der Firma arbeitete Gustav Kleemann als Auswanderungs- und Kapitalberater. Parallel betrieb er ein großes Auswanderungsprojekt nach Südamerika – letztlich erfolglos.

So wurden Gustav Kleemann und seine Frau Erna am 27. November 1941 zusammen mit dem Bruder Max und dessen Tochter Lore in das Lager Riga-Jungfernhof im besetzten Lettland deportiert. Gustav wurde für den Transport zum Ordner eingeteilt und nach der Ankunft zum Lagerältesten ernannt. Er hatte die Befehle der Lagerleitung weiterzugeben und umzusetzen und sich um organisatorische Belange zu kümmern. Bei den Mitgefangenen war das nicht sonderlich beliebt.

Käte Frieß schreibt zuweilen mit spitzer Feder über Kleemann und seine Frau. Anders als die recht arrivierten Kleemanns gehörten Käte und Georg Frieß zu den jungen Menschen in dem Transport aus Würzburg. Beide stammten aus Familien mit jeweils einem nichtjüdischen Elternteil. Georg, dessen Vater im 1. Weltkrieg gefallen war, wuchs jedoch in der jüdischen Tradition auf, ging auf die Präparandenschule in Höchberg und anschließend auf die Israelitische Lehrerbildungsanstalt in Würzburg. Im Anschluss arbeitete er als Lehrer und Kantor im hessischen Sterbfritz und später als einer der letzten Lehrer an der Jüdischen Volksschule in Würzburg. An Silvester 1940 heiratete er Käte Solms aus Stettin, die eher säkular aufgewachsen war.

Als die Jüdische Gemeinde sich auf den ersten Transport nach Osten vorbereitete, fragte sie Georg Frieß, ob er sich mit seinen Schülern „evakuieren“ lassen würde. Das junge Ehepaar willigte ein – und einmal auf der Deportationsliste, gab es kein Zurück mehr. Vergeblich versuchte Kätes Mutter, sie mit dem Hinweis auf ihre „halbjüdische“ Herkunft wieder streichen zu lassen.

Wir verdanken Käte Frieß einen ausführlichen, präzisen und emotionalen Bericht über ihre dreieinhalb Jahre in verschiedenen Lagern in Lettland, auf dem Weg zurück nach Westen, in Hamburg und Kiel. Anfang März 1945 wurde das Paar getrennt und Georg starb im April in Bergen-Belsen an dem dort grassierenden Flecktyphus. Käte dagegen wurde kurz vor Kriegsende befreit und nach Schweden gerettet. Sie starb 1997 in den USA.

In ihrem autobiographischen Bericht schildert sie auch die tragische Rolle Kleemanns und die seiner Nichte Lore während der sogenannten „Dünamünde-Aktion“ – der zentralen Zäsur im Lagerleben auf dem Jungfernhof. Denn am 26. März 1942 wurden die Bewohner und Bewohnerinnen für die Massenerschießungen im Wald von Bikernieki selektiert. Und die meisten von ihnen überlebten den Tag nicht. „[Major Dr. Rudolf] Lange erschien bei K.[leemann], lobte seine Arbeit und meinte, in Dünamünde […] wäre ein neues Lager einzurichten, und da K. sich hier so vorzüglich bewährt habe, möge er auch dort die Einrichtung des neuen Lagers übernehmen. Klang das nicht nett und menschlich? K. fühlte sich geschmeichelt, und arglos meldeten sich fast alle freiwillig für dieses neue Lager in der Hoffnung, es dort besser anzutreffen oder sich gleich ein Pöstchen zu sichern.“ Nur ein kleiner Teil der Lagerbewohner, die Jungen und Kräftigen, „sollte zur landwirtschaftlichen Arbeit unter Lagerleiter Seck am Jungfernhof zurückbleiben“. Dazu gehörte auch das Ehepaar Frieß.

„An der Lore K., des Lagerältesten Nichte, hatte Seck Gefallen gefunden. Alles Weinen, Flehen, des stolzen, schönen Mädchens, das mit seinen Angehörigen nach Dünamünde gehen wollte, war vergeblich. „Lore, du bleibst!“ war stets Secks Antwort.“ In einem seltenen Anfall von Menschlichkeit gab er dann jedoch nach. „Da trafen uns Secks Worte wir Messerstiche, „Lore, Du wirst es bitter bereuen und in einer halben Stunde blutige Tränen weinen …“ Nur Lore begriff nichts und stürmte selig hinaus auf den Appellplatz in den letzten Wagen, der sie zu ihren Angehörigen ins neue Lager bringen sollte.“ Mit vielen hundert anderen Lagerbewohnern, darunter ihr Vater und ihr Onkel, wurde sie kurz darauf im Hochwald von Bikernieki bei Riga erschossen.

Quelle für die Zitate: Christin Sandow (Hg.), „Schießen Sie mich nieder!“ Käte Frieß´ Aufzeichnungen über KZ und Zwangsarbeit von 1941 bis 1945, Berlin 2017 (Schriften der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Reihe B: Quellen und Zeugnisse, Bd. 9).

© Rotraud Ries, 2022

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